Montag, 13. September 2010

Alzheimer

Er schlurft über das Kopfsteinpflaster der engen Gasse hinüber zu einem großen Park.
Einen Hut trägt er auf dem Kopf, einen Stock in der rechten Hand, sein Mantel steht offen.

Auf einer Parkbank setzt er sich nieder, starrt in den frühen Nachmittag. Die Welt um ihn herum ist nur noch grau. Die Pracht der Farben ist mit den Jahren vor seinen Augen verblichen. In seinem Innern herrscht die Leere.

Er weiß weder seinen Namen noch wo er wohnt. Die Krankheit hat sich langsam in seinen Körper geschlichen und ihm im Laufe der Zeit seine Eigenständigkeit geraubt.
Seine Frau hat ihn mit neunzig Jahren verlassen, stieg hinab in das Grab. Er hatte diesen Verlust nicht einmal bemerkt. Am Tag ihrer Beerdigung hat er nicht eine Träne vergossen. Warum?

Seine Gefühle waren zu Eis geworden und diese Kälte hatte sein Herz schon lange nicht mehr verspürt.

Der Sohn wurde vom Herzinfarkt aus der Blüte seines Lebens gerissen. Die Tochter hat ihn schon lange nicht mehr besucht. Sie lebt weit entfernt in einem anderen Land. Das hat er alles vergessen.

In seinem früheren Leben war er eine bekannte Persönlichkeit gewesen, jetzt ist er nur noch ein vor sich hindämmerndes Menschlein. Ohne fremde Hilfe nicht mehr fähig ein Leben zu führen. Er spürt weder Durst noch Hunger oder die daraus resultierenden Gefahren.

Die Stunden vergehen und niemand vermisst ihn.

In der Abenddämmerung kommt eine Schwester vom nahen Altenheim, sammelt ihn ein. Im Altersheim bringt sie ihn in seinen Wohnraum. Hier lebt er schon seit Jahren, nur weiß er es nicht.

An jenem Tag als die Ärzte ihm sagten er habe Alzheimer, da hat er laut gelacht. Er und Alzheimer, niemals!

Die Zeit hat dann grausam und unbarmherzig die Wahrheit an das Licht des Tages geführt.

Sein Leben verblasste vor seinen Augen und er konnte nichts dagegen tun. Sein frohes Lachen früherer Jahre erstarrte zu Eis auf seinem Gesicht.

An wirklich guten Tagen grinste er nur vor sich hin. In schlechten Zeiten neigte er plötzlich zu unkontrollierter Wut und Gewaltausbrüchen.Seine Muskulatur war immer schwächer geworden, in der Folge neigte er immer öfter zur Inkontinenz.

Die Nachtschwester schaut am späten Abend ein letztes Mal nach ihm, deckt ihn richtig zu.

In der Nacht verlässt er sein Bett, setzt sich auf seinen Sessel am Fenster, starrt hinaus in die Nacht.

Am nächsten Morgen finden sie ihn, so sitzend in seinem Sessel. Die Augen starren noch immer hinaus in die Welt, doch sehen sie nun endgültig nichts mehr.

Seine körperliche Schwäche hat zu einem Herzinfarkt geführt.

Der Tod hat ihn endlich von diesem Leben erlöst, doch innerlich gestorben war er schon viel früher.

© Bernard Bonvivant